Rede anlässlich des 25-jährigen Todestags von Thomas Bernhard, gehalten am 12. Februar 2014 im Salon Rouge des Palais Clam-Gallas, Institut français, Wien
von Wolfram Bayer
Mesdames et Messieurs,
sehr geehrte Damen und Herren!
Wie wir heute wissen, begann sich Thomas Bernhard um die Mitte der 1970er Jahre für Voltaire zu interessieren. Er beschäftigte sich unter anderem mit der rororo-Monografie Voltaire. In Selbstzeugnissen und Bilddokumenten von Georg Holmsten, die 1971 erschienen ist. In seinem Nachlass fanden sich mehrere Monografien berühmter Männer, darunter Montaigne und der Fürst von Metternich, doch vom Voltaire besaß er zwei Exemplare, die er vermutlich an verschiedenen Aufenthaltsorten benutzt und mit Anstreichungen und Annotationen versehen hat. Die Schrift- und Lesespuren, die er auf ihren Seiten hinterließ, sind glücklicherweise erhalten geblieben. Sie führen zu Textstellen seines Werks, in denen Voltaire namentlich genannt oder zitiert wird. Damit geben sie auch Aufschluss über Bernhards montageähnliche Arbeitsweise, das für seine Prosa- und Theatertexte charakteristische „Einschmelzen“ von Fremdzitaten, Motiven oder Motivfragmenten in die Äußerungen seiner Protagonisten und Erzähler. Und schließlich lassen die Erwähnungen des großen französischen Philosophen und Schriftstellers Rückschlüsse auf Inhalte des dabei mitschwingenden Begriffs der „Aufklärung“ zu. Die folgenden Überlegungen verdanken sich freundlichen Auskünften aus dem Thomas-Bernhard-Archiv im oberösterreichischen Gmunden (Martin Huber, Bernhard Judex), wo Informationen zum Nachlass bis vor kurzem auf unkomplizierte Weise ermittelt werden konnten.
Bernhard besaß auch Rudolf von Bitters Monografie Voltaire. Leben und Werk, die 1978 im Insel Verlag erschienen ist, sowie deutschsprachige Taschenbuch-Ausgaben der berühmten philosophischen Erzählungen Candide (Insel 1972) und Zadig. Die Prinzessin von Babylon (Fischer 1964). Sie sind die am weitesten verbreiteten Texte Voltaires. Zadig wird im späteren Werk eine deutliche Spur hinterlassen. Als sich z.B. Rudolf, der Erzähler von Beton, über die „sogenannte Tierliebe“ erregt, kommt er auf Schopenhauers Hund zu sprechen und anschließend auf die himmelschreiende Tatsache, dass Hundehalter eher „ihren Hund vor dem Fallbeil retten“ würden „als Voltaire“. Der große französische Aufklärer, die Inkarnation von Geist und Vernunft, wird hier der „gemeingefährlichen Heuchelei“ und Dummheit der Tierfreunde entgegengesetzt. Mitten in seinen Reisevorbereitungen zögert Rudolf und überlegt, ob es nicht doch besser wäre, zu Hause zu bleiben und „sich in den Voltaire zu vertiefen, wie ich vorgehabt habe, in den geliebten Diderot“ (Werke 5, 91). Doch schon auf der folgenden Seite beruhigt ihn seine kluge Entscheidung, in die großväterliche „Geistestasche“ neben einem Dostojewski auch „den Voltaire eingepackt“ zu haben. Um welchen Voltaire es sich handelt, wird erst klar, als er, in Palma angekommen, auf ein Zitat aus Zadig stößt, das vom Autor kursiviert und sogar mit Quellenangabe versehen wurde: „Dann ließ sie den entzückendsten Busen sehen, den die Welt je gesehen hatte, Zadig“ (94). Den Erzähler bringt dieser Satz zum Lachen, sei es wegen der hier aufblitzenden galanten Erotik, die in Beton wie ein textfremdes Einsprengsel wirkt, sei es wegen der Wortwiederholung „sehen-gesehen“, die ein weiteres Mal Bernhards freien Umgang mit Zitaten belegt. Genaugenommen ließ Voltaire seine schöne Heldin nämlich „den entzückendsten Busen sehen, den die Natur je gebildet hatte“ (Hervorhebung von mir), wie auf S. 75 der Rowohlt-Monografie zu lesen und dank eines dort abgebildeten zeitgenössischen Stichs auch zu sehen ist.
Der Autor der Monografie, Bernhards Mittelsmann in Sachen Voltaire, ist der deutsche Biograf und Historiker Georg Holmsten. Er war im Zweiten Weltkrieg als Nachrichtenoffizier unter Admiral Canaris tätig. Als Voltaire-Spezialist leistet er jetzt Bernhard wertvolle Dienste, wird von ihm regelrecht abgeschöpft: Auf S. 117 zitiert er die abschließende Maxime einer erkenntniskritischen Passage jenes berühmten Dictionnaire philosophique portatif (Philosophisches Taschenwörterbuch), der nach seinem anonymen Erscheinen 1764 verschiedentlich verboten, auf den Index gesetzt und verbrannt wurde. Bernhard rahmte diese Maxime Voltaires fein säuberlich ein, mit blauem Filzstift, wie es scheint, um sie später als Motto für Ein Kind zu verwenden; dort kann man sie, in einen völlig anderen Kontext verschoben, als Kommentar zur vergeblichen Suche des Erzählers nach seinen verschütteten Ursprüngen lesen: „Niemand hat gefunden oder wird je finden.“
Damals in den 1970er Jahren waren in diesen Monografien doppelseitige Anzeigen für Finanzprodukte enthalten, weil sich das für ein modernes Taschenbuch so gehörte und weil es als sensationelle Verlegeridee galt. Im Band über Voltaire, der ja unter anderem mit einer Staatslotterie, Rohstoffen, Armeelieferungen und sächsischen Steuerkassenscheinen spekuliert und beträchtliche Gewinne erzielt hat, werden – für seine und für unsere heutigen Verhältnisse recht biedere – Pfandbriefe und Kommunalobligationen empfohlen. Die Anzeige (nach S. 94) beginnt mit dem Slogan „Von wem ist die Rede, außer von Geld?“. Direkt darunter notierte Bernhard den ersten Einfall für ein kommendes Buch: „[Wittgensteins Neffe] … habe ich 10 Jahre gekannt usf.“ Auf die Idee brachte ihn offenbar ein Zitat aus Goethes Anmerkungen zu Rameaus Neffe auf S. 164, das er ebenfalls eingerahmt hat. Wittgensteins Neffe wird ebenfalls, genauso wie Beton und Ein Kind, im Jahr 1982 erscheinen.
Bernhard las in diesen Jahren auch Diderot, von dem er ebenfalls einige Insel-Bände besaß, die schon in den 1960er Jahren erschienen sind: den Nachtrag zu „Bougainvilles Reise“ (eher ungelesen), Jakob und sein Herr, Paradox über den Schauspieler und jene Mystifikation, auf deren Lektüre sich schon der Vater des Erzählers von Verstörung freute (Werke 2, 28). Diderot gehört zu den französischen „Geistesköpfen“, die von Bernhards frankophilen Protagonisten oder Erzählern bis hin zu Heldenplatz (Werke 20, 230) am höchsten geschätzt werden. Sie nennen mehrmals, und in unterschiedlichen Zusammenhängen, das Trio Pascal, Montaigne und Voltaire; erwähnt werden aber auch Baudelaire und Racine, und so unterschiedliche Autoren wie Charles Péguy, Arthur Rimbaud, Spinoza, Paul Valéry, Antonin Artaud und Jean-Paul Sartre erfahren in der Prosa wie in den Stücken eine Anerkennung, die völlig frei von Ironie und Satire ist; sie bleiben in auffälligem Unterschied zu anderen Schriftstellern und Philosophen von Persiflage und Spott verschont. Ganz ohne weiteres huldigt Bernhard dabei dem Nationalstereotyp, das der französischen Kultur ein besonders unabhängiges, gewissermaßen „aufklärerisches“ Denken nachsagt. Auch der Attaché an der französischen Botschaft ist bei ihm ein „meisterhafter Aufklärer selbst der finstersten Zusammenhänge“ (Werke 14, 60).
Die Sonderstellung, die gewisse französische Autoren in Bernhards Textwelt genießen, wird besonders deutlich, wenn man sie mit der mitleidslosen und sarkastischen Behandlung vergleicht, die deutsche Philosophen oder Schriftsteller erfahren. Sie werden grotesk verzerrt dargestellt, erleiden durchwegs ein jämmerliches Schicksal: Kant, der deutsche Aufklärer, hat einen Vogel und kommt ins Irrenhaus, Schopenhauer ist auf den Hund gekommen, Heidegger, zugleich „Nazi“ und „Kitschkopf“, tritt in schafwollenen Strümpfen auf und sofort wieder ab, Nietzsches Kopf ist explodiert. Die Unglücklichen stehen für das 19. Jahrhundert, das Jahrhundert des Bürgertums und des (deutschen) Idealismus, das mit ihnen der Lächerlichkeit preisgegeben und für ungültig erklärt wird – eine gewichtige Sonderstellung nimmt dabei der „Lach- und Spaßphilosoph“ Schopenhauer ein. Stattdessen greifen Bernhards Protagonisten bevorzugt auf das französische 16. (Montaigne), 17. (Pascal) und 18. Jahrhundert (Voltaire) zurück. Damit wird die europäische Geistesgeschichte vom Bernhardschen Familienmythos sozusagen adoptiert: Nicht die Väter, sondern die Großväter sind Teil der „Geistesfamilie“, die Großväter werden anerkannt und geliebt. Sie sind die existentiellen Rettungsanker, die überlebensnotwendigen Gegengewichte zu den Zwangszusammenhängen, in denen viele Figuren aufgrund ihrer Herkunft stecken. Dem autobiografischen Großvater am nächsten steht wohl der „Retter und Erretter“ Michel de Montaigne, der in Die Ursache mit drei strategisch platzierten Zitaten vertreten ist und auch die Motti von Der Keller und Auslöschung geliefert hat. Ihm, dem Großvater der Großväter, dem „Oberhaupt […] dieser französischen Familienmitglieder“ (Werke 14, 421), hat Bernhard eine Erzählung gewidmet, in der die von einem Gefühl des Aufgehobenseins begleitete „innige und tatsächlich erleuchtende“ (414) Verwandtschaft mit dem großen Moralisten und Skeptiker in einem warmherzigen Ton beschworen wird. Montaigne wurde für die Hamburger Zeit geschrieben, was nicht verhindern konnte, dass ihr Erzähler darin seine „Geistesfamilie“ ausdrücklich „nur als eine unendlich große französische philosophische Familie“ bezeichnete, „in welcher es immer nur ein paar deutsche und italienische Neffen und Nichten gegeben hat, die aber alle, wie ich sagen muß, sehr früh gestorben sind“ (Werke 14, 420).
Voltaire taucht in Bernhards Texten zunächst nur als Inbegriff des Philosophen, Künstlers und „Geistesmenschen“ auf (so auch im Stück Der Schein trügt (Werke 19, 18, 23 sowie 86) sowie im Theatermacher, (Werke 19, 121). Die bloße Nennung seines Namens genügt, um mit ihm verbundene Vorstellungen wachzurufen, die im kollektiven Gedächtnis der Menschheit gespeichert sind: sein mit der Feder geführter Kampf gegen Aberglauben, Intoleranz und Willkürherrschaft, sein mutiges Eintreten für unschuldig Verurteilte, seine Kritik an Justizsystem und Strafvollzug, seine Bereitschaft, sich mit den Mächtigen seiner Zeit anzulegen und ihnen mit Sarkasmus und Spott die Stirn zu bieten. Die öffentliche, politische Wirkung Voltaires, insbesondere seine universell anerkannte Bedeutung als Vordenker der Französischen Revolution, schwingt in der Prosa und in den Dramen überall dort mit, wo gesellschaftliche Machtverhältnisse (mit-)verhandelt werden. Eine weitere Annotation in Holmstens Monografie belegt, dass sich Bernhard bereits auf die Arbeit an Der Präsident (1975), seinem zweiten explizit politischen Stück nach Die Jagdgesellschaft, mit Voltaire-Lektüren vorbereitet hat. In Holmstens Monografie hielt er auf einer leeren Seite für sich – und wohl auch für die Nachwelt – befriedigt, allerdings mit Fragezeichen, fest: „[Der Präsident] / alles aus den Studien / Voltaires / fertig 74 (?)“. Der Präsident, das „Anarchistenstück“, als das es anläßlich seiner Stuttgarter Erstaufführung im Kontext des „Baader-Meinhof“-Prozesses wahrgenommen wurde, trägt ebenfalls ein – noch unidentifiziertes – Motto von Voltaire. In den Text sind zudem einige Motive und Ideenfragmente verwoben, die auf ihn verweisen und einen ironisch-prärevolutionären Subtext andeuten. Sie sind im wesentlichen um die Figuren des Präsidenten und des Kaplans gruppiert. Beide zitieren „Voltaire / immer wieder Voltaire“ (Werke 16, 174), unter anderem eine Stelle aus dem 21. Kapitel von Zadig (213), und es fallen Äußerungen über die „parasitäre“ Kirche (160), die Voltaires Kirchenkritik anklingen lassen, wie auch der ambivalente Monolog des Präsidenten über die Politik als „höchste Kunst“ (224) an Voltaires bekannte Definition der Politik als „erste der Künste und letzten der Berufe“ erinnert. Der große Aufklärer ist ein wichtiger Bestandteil der sprachlichen Ausstattung des Stücks und trägt als Wegbereiter der Französischen Revolution zu seiner eigentümlich bedrohlichen, von der Vorahnung blutiger Umbrüche überschatteten Atmosphäre bei. Aus Holmstens Monografie (132, 130) entlehnte Bernhard auch ein erstes, später verworfenes Motto (vgl. Kommentar, Werke 16, 383) sowie die spöttische Anekdote mit Voltaires Esel, die er wörtlich in die Rede der Präsidentin übernahm: „Ich bitte Sie / sagte Voltaire zu seinem Esel / wenn er ihn an der Gartenpforte antraf / Sie haben den Vortritt mein Herr Präsident“ (174f).
Voltaire wird ebenfalls in Der Weltverbesserer (1979) angerufen, aber nur, um den mit dem Begriff der Aufklärung verbundenen humanistischen Idealen eine deutliche Absage zu erteilen. Auch dieses Stück steht unter einem Motto von Voltaire. Sein Protagonist, der sein ganzes Leben der Frage gewidmet hat, „wie die Welt zu verbessern sei“ (Werke 17, 252), beklagt halb empört, halb wehmütig das Missverständnis um seinen „Traktat zur Verbesserung der Welt“: „Voltaire habe ich gesagt / aber sie hatten nicht verstanden / was ich meinte“ (219). Er ist zu der Überzeugung gelangt, man könne die Welt nicht verbessern, sondern nur „abschaffen“; alle philosophischen Bemühungen, auch die der drei großen Franzosen, seien an der Unveränderlichkeit der Verhältnisse gescheitert: „Einmal habe ich Montaigne vertraut / zuviel / dann Pascal / zuviel / dann Voltaire / dann Schopenhauer“ (248). Ähnlich wie Kant in Immanuel Kant trägt der Weltverbesserer einzelne Züge des alten, kränkelnden, auf dem Gipfel seines Ruhms stehenden Voltaire: Er lebt mit einer nahezu stummen „Frau“ zusammen wie der Patriarch von Ferney mit seiner ihm ergebenen Nichte, erträgt die zahlreichen Symptome seiner Leiden mit sarkastischer Ironie und ist mit Requisiten aus dem 18. Jahrhundert versehen, einer Perücke und einem Hörrohr. Zudem spricht einiges dafür, dass es sich bei dem „Buch“, in dem er zu Beginn des Stücks eine „ausgezeichnete Stelle“ (179) sucht, um nichts weniger als jene Rowohlt-Monografie handelt, von der hier die Rede ist: Der Autor scheint in der Ersten Szene jene Publikation auf die Bühne gebeten zu haben, die ihn mit Ideen für das Stück versorgt und dabei, denken wir an den „entzückendsten Busen“, immerhin auch zum Lachen gebracht hat – eine diskrete Hommage an die Nützlichkeit von Sekundärliteratur. Die Anspielung auf Johanna von Orléans (184) dürfte wohl auf Voltaires Burleske La Pucelle zurückgehen (bei Holmsten: 106 f.), und mit dem „Erdbeben“ (180) könnte durchaus jenes Lissaboner Erdbeben gemeint sein, das Voltaire bekanntlich als Argument gegen Leibniz’ Annahme einer „besten aller möglichen Welten“ diente – was wiederum mit der skeptischen Haltung des Weltverbesserers der Philosophie gegenüber in Einklang steht. All diese Voltairiana, mit denen Der Weltverbesserer unterlegt ist, sind, jedes für sich genommen, „verwischt“, semantisch leicht verschoben oder in einen anderen Kontext versetzt und daher nicht immer leicht zu identifizieren – der „Übertreibungskünstler“ war auch ein Meister der Metonymie und der Aussparung. Zusammengenommen bilden sie ein kohärentes Netz intertextueller Verweise, das den Text des Weltverbesserers sowohl einfärbt als auch ironisch konterkariert. Voltaire steht damit für die Ideale der Aufklärung, dient aber zugleich auch als Kronzeuge für das Scheitern der Philosophie und im weiteren Sinn der Vernunft – ein weiteres Beispiel für die als „Umspringbild“ (W. Schmidt-Dengler) gestaltete und u. a. in Immanuel Kant thematisierte Bernhardsche Kunst der „Equilibristik“.
Der Präsident und Der Weltverbesserer sind, wie erwähnt, Mitte der 1970er Jahre entstanden. Von da an gehört Voltaire zum engsten Kreis der „französischen Geistesfamilie“. Er ist nicht nur in Immanuel Kant, Der Schein trügt, im Theatermacher, in Beton und Ein Kind präsent, sondern auch in allen großen Prosaarbeiten seit einschließlich Der Untergeher. Häufig tritt er, wie schon erwähnt, als Mitglied des Trios oder besser gesagt Triumvirats Pascal, Montaigne und Voltaire auf, immer in Zusammenhängen, in denen es um Machtverhältnisse geht, insbesondere um die reale Macht und Ohnmacht von Vernunft und Philosophie. Je nach Kontext wird dabei die Zusammensetzung des Trios auf subtile Art und Weise variiert: Holzfällen z. B. trägt zwar ein Motto von Voltaire; es steht bei Holmsten auf S. 111, gegenüber einem Gemälde des an seinem Schreibtisch verschmitzt lächelnden und vom Licht der Aufklärung überfluteten Philosophen. Im Text des in seinem Ohrensessel lauernden Ich-Erzählers wird er jedoch durch einen anderen, hier offenbar noch relevanteren, russischen Autor ersetzt, der den gesellschaftlichen Zusammenhang als bodenlos dämonische Groteske gezeichnet hat und deshalb als erster genannt wird: Anstatt zum künstlerischen Abendessen der Auersbergers zu gehen, überlegt der Erzähler abschließend, hätte er besser „in meinem Gogol oder in meinem Pascal oder in meinem Montaigne“ (Werke 7, 198) lesen sollen. Ähnlich wie hier werden die Philosophen- und Schriftstellernamen von Text zu Text verschieden kombiniert, je nachdem, an welchem Verweissystem sie teilnehmen. Im Untergeher kann Voltaire z. B. auch im Verein mit Shakespeare und den großen Deutschen als jemand bezeichnet werden, »der seinen Kopf mißbraucht und sich selbst am Ende ad absurdum geführt hat. Der überrollt und überholt worden ist von der Geschichte« (Werke 6, 61 f.). Sowohl Der Untergeher (1983) als auch Holzfällen (1984) beantworten also die philosophische Frage, ob sich Vernunft und Humanismus in der Geschichte verwirklicht haben, mit einem klaren Nein. Bernhard fasst diese illusionslose Bilanz in das Bild der „Geistesgrößen“ als Häftlinge der Wirklichkeit (Werke 6, 62).
Ist in Holzfällen die mit der Abarbeitung der Vergangenheit verbundene Gesellschaftskritik deutlich autobiografisch getönt, wird sie in Auslöschung zugleich konkreter und allgemeiner, sehr explizit und sehr politisch formuliert. „Der Katholizismus ist daran schuld“, zürnt Murau, „daß es in Österreich so viele Jahrhunderte keine Philosophen […] gegeben hat […]. Wir haben keinen Montaigne, keinen Descartes, keinen Voltaire […], nur diese dichtenden Mönche und diese dichtenden Aristokraten mit ihrem katholischen Schwachsinn“ (Werke 9, 114). Als Kind durfte Murau nur die „sogenannten geistlichen Werke“ lesen, die „sogenannten weltlichen Werke“, die in Bücherkästen versperrt aufbewahrt wurden, waren ihm verboten. Die von den Eltern verhängte Zensur trifft das franko-französische Trio, an dessen Spitze, wohl nicht zufällig, wieder der vehement antiklerikale Voltaire steht: „Voltaire, Montaigne, […] eingesperrt, die in Hunderten und Tausenden von Lederbänden gesammelte Dummheit der Grafen und Mönche nicht. Die Voltaire und Montaigne und Descartes sollen ein für allemal versiegelt sein in diesen Kästen, man denke“ (116). In Bernhards großer Abrechnung mit dem „katholisch-nationalsozialistischen Ungeist“ wäre Pascal, der Apologet des Christentums, der bis inklusive Korrektur eine bedeutende Rolle gespielt hat, fehl am Platz; er muss Descartes weichen, dem Rationalisten. Hier steht die Freiheit des Geistes auf dem Spiel, und hier handelt Murau, das heißt er beschließt, „den eingesperrten bösen Geist“ (118), das „tödliche Gift“ der Aufklärung freizulassen. Anders als der Erzähler von Midland in Stilfs, der die Schlüssel zu der riesigen versperrten Stilfser Bibliothek in der Alz versenkt hatte (Werke 14, 128), nimmt er sich vor, die verbotenen Wolfsegger Bibliotheken „für immer“ (425) aufzusperren. Mit dieser Geste sorgt er sehr modern für Transparenz, öffentlichen Zugang, open source, wobei es einem schwerfällt, nicht an unsere zeitgenössischen Whistleblower und Wikileaker zu denken, die ebenfalls verbotene Bibliotheken aufsperren. Julian Assange beruft sich in Interviews explizit auf das Enlightenment, und Edward Joseph Snowden wurde von der Philosophischen Fakultät einer deutschen Universität bescheinigt, „zum höheren Zweck der Aufklärung“ gehandelt zu haben – eine gelungene Formulierung, die die klassische Bedeutung von „Aufklärung“ mit der nachrichtendienstlichen kollidieren läßt.
Die Gestalt Voltaires mag Bernhard während der zahlreichen von ihm inszenierten öffentlichen Auseinandersetzungen, Erregungen und Skandale mehr als einmal vor Augen gestanden sein. Wie die Protagonisten seiner Dramen und Erzählungen sah er in ihm wohl einen Verbündeten im Kampf um die öffentliche Meinung, wohl wissend um dessen Vergeblichkeit; und es ist nicht unmöglich, dass er in dem weitaus berühmtesten und wohlhabensten Schriftsteller seiner Zeit einen würdigen Vorläufer seiner selbst erkannte. Ihrer „Geistesverwandtschaft“ liegen ein gemeinsamer radikaler Skeptizismus und eine gemeinsame schriftstellerische Haltung zugrunde, ein widerständiges, performatives, ganz auf ihre gesellschaftliche Wirkung abgestelltes Verständnis von Literatur. Die Kunst soll nicht bezeugen oder beschreiben, sondern überzeugen, indem sie irritiert, provoziert, in Frage stellt, Unruhe stiftet. Um einem Briefpartner den Unterschied zwischen ihm und Rousseau zu erklären, fasste Voltaire seine Auffassung vom Sinn und Zweck seines Schreibens in eine Formel, die zugleich die zentrale Botschaft seiner zahlreichen Auftritte in Bernhards Texttheater ist: „Jean-Jacques schreibt um zu schreiben. Ich schreibe um zu handeln, Moi, j’écris pour agir.“
Unter den geliebten Großvätern, die wie Schutzheilige über Bernhards Erzähler / Figuren wachen, ist Voltaire also für die Macht und Ohnmacht der Vernunft zuständig, ähnlich wie Pascal für die Abgründe der letzten Fragen oder Montaigne für das Aufgehobensein in Literatur und Philosophie. Die Macht und die Ohnmacht der Vernunft … Zwei Texte Bernhards bringen die beiden bedeutendsten Vertreter der Aufklärung mit einem Begriff in Zusammenhang, der das genaue Gegenteil von Macht ist: mit der Hilflosigkeit. Im Untergeher schrumpft die Philosophie Kants „mit der Zeit […] auf eine ganz und gar vage Welt aus Nacht und Nebel zusammen, die in der gleichen Hilflosigkeit endet wie alle andern“ (Werke 6, 61). Und wenn Reger in Alte Meister „meinen geliebten Montaigne oder meinen vielleicht noch mehr geliebten Pascal oder meinen noch viel mehr geliebten Voltaire“ liest, begründet er seine Liebe zu den drei französischen Philosophen ebenfalls mit ihrem Scheitern, mit ihrer Machtlosigkeit. Damit entwirft er zugleich einen spezifisch Bernhardschen Humanismus, der nicht auf die Durchsetzung von Liberté und Égalité pocht, sondern die heute in der Erklärung der Menschenrechte und in vielen republikanischen Verfassungen verankerte Utopie der Fraternité anklingen läßt: „Wir lieben ja Pascal nicht, weil er so vollendet ist, sondern weil er im Grunde so hilflos ist, wie wir Montaigne wegen seiner lebenslänglich suchenden und nicht findenden Hilflosigkeit lieben, Voltaire wegen seiner Hilflosigkeit.“ (Werke 8, 26, 29)
Vielen Dank, merci!